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Die Jahre

Autor
Ernaux, Annie

Die Jahre

Untertitel
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Beschreibung

Nobelpreis für Literatur 2022

Mit Die Jahre legt die erfolgreiche französische Autorin Annie Ernaux ein ganz besonderes Buch vor, das in Frankreich bereits 2008, aber erst jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist. Ein besonderes Buch ist es schon deshalb, weil es als „unpersönliche Autobiographie“ in keine Schublade zu passen scheint. Der Wunsch, den sich Ernaux in diesem literarischen Projekt offenbar selbst erfüllt, lautet: „Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“ Und es ist ihr geglückt
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2017
Seiten
255
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-518-22502-8
Preis
22,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden.

Zum Buch:

Mit Die Jahre legt die erfolgreiche französische Autorin Annie Ernaux ein ganz besonderes Buch vor, das in Frankreich bereits 2008, aber erst jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist. Ein besonderes Buch ist es schon deshalb, weil es als „unpersönliche Autobiographie“ in keine Schublade zu passen scheint. Der Wunsch, den sich Ernaux in diesem literarischen Projekt offenbar selbst erfüllt, lautet: „Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“ Und es ist ihr geglückt.

Ernaux vermeidet in ihrer Rückschau, die in ihrer Kindheit in den Nachkriegsjahren beginnt und 2007 endet, konsequent ein „Ich“. An seine Stelle tritt „man“ oder „wir“, das die scharfen Kanten einer persönlichen Erinnerungen zerfließen lässt, in einen gesellschaftlichen, politischen und zeitkritischen Zusammenhang überführt und damit die eingeschränkte, private Erinnerung zu einer kollektiven macht.

Die von der Autorin beschriebenen und offenbar für sich selbst als Anker im Erzählfluss verwendeten Fotografien sind zuächst schwarzweiß, dann farbig und irgendwann digital. In diese Momentaufnahmen eines individuellen Lebens taucht Ernaux ein, um nach den Details zu suchen, die das Alltagsleben zu dem jeweiligen Zeitpunkt bestimmten: Musikschnipsel, die Art der Kleidung, die Aufschluss über gesellschaftliche Veränderungen gibt, Meinungen und Redewendungen tauchen Stück für Stück aus diesen Gedächtnisbildern auf. Die Übersetzerin Sonja Finck hat gerade im Hinblick auf diese sprachbezogenen Erinnerungen, die oftmals sicher fast unübersetzbar waren, sehr gute Arbeit geleistet.

Egal ob es um die Algerienkrise, de Gaulle, Mitterand, Familienfeste, politische Attentate, die Rolle und Befreiung der Frau in der französischen Gesellschaft oder die 68er-Bewegung geht, Ernaux schafft es anhand von eher wertungsfreien und fast kühl beschriebenen Rückblenden, ein literarisches Soziogramm Frankreichs zu entwickeln. Was ihr darüber hinaus ungemein gut gelingt, ist ein sich steigerndes Tempo des Erzählrhythmus, so als hätte sich das Rad der Geschichte immer schneller gedreht oder als habe die zunehmende Kulturlosigkeit einer Wohlstandsgesellschaft es unmöglich gemacht, innezuhalten.

Wenn man Ernauxs Roman überhaupt etwas vorwerfen möchte, dann vielleicht seine Fortschrittskritik und seinen Kulturpessimismus. Das von der französischen Gesellschaft gezeichnete Bild rutscht immer tiefer in ein von kulturellen Auseinandersetzungen, Armut, Gewalt und Ziellosigkeit geprägtes Dunkelgrau, dessen einziger Motor der Konsum zu sein scheint. Dieses sich verändernde Bild Frankreichs ist aber so untrennbar mit dem Prozess von Ernauxs Älterwerden verbunden, dass schwer zu unterscheiden ist, ob es sich bei der Beschreibung vordergründig um die tatsächlich vorhandenen gesellschaftlichen Probleme oder um ein persönliches Gefühl der Ermüdung und die Wahrnehmung von Endlichkeit handelt.

Frankreich und viele Länder Europas suchen aktuell nach ihrem individuellen oder gemeinsamen Weg in eine europäische Zukunft. Dazu ist eine Bestimmung des Status Quo ebenso wichtig wie das Einbeziehen des Vergangenen. Auch deswegen ist Die Jahre als Dokumentation einer Epoche unseres Nachbarlandes so unbedingt lesenswert.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt