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Autor
Güçyeter, Dinçer

Unser Deutschlandmärchen

Untertitel
Roman
Beschreibung

Gewinner Leipziger Buchpreis 2023 Belletristik

Unser Deutschlandmärchen, das ist kein Roman, sondern an allererster Stelle ein Chor von Stimmen, die Geschichte(n) erzählen. Von großenteils weiblichen Stimmen, die in Monologen und im Dialog mit dem Autor das Schweigen brechen, zu dem sie verurteilt waren und sich selbst verurteilt hatten. Güçyeter lotet die Tiefenschichten der Entwurzelung und des Lebens in einer Gesellschaft aus, in der Gastarbeiter nur der Produktion dienen und keinerlei Anerkennung bekommen, weder für ihre Leistung noch für ihre Person. Er bedient sich dazu aller nur erdenklichen literarischen Formen und einer Sprache, die, ob nun poetisch, wütend, mythisch oder nüchtern, immer von herzzerreißender Schönheit ist und einen Sog erzeugt, dem sich kaum jemand wird entziehen können.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
mikrotext Verlag, 2022
Format
Gebunden
Seiten
216 Seiten
ISBN/EAN
978-3-948631-16-1
Preis
25,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Dinçer Güçyeter, geboren 1979 in Nettetal ist ein deutscher Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Güçyeter wuchs als Sohn eines Kneipiers und einer Angestellten auf. Er machte einen Realschulabschluss an einer Abendschule. Von 1996 bis 2000 absolvierte er eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker. Zwischenzeitlich war er als Gastronom tätig. Im Jahr 2012 gründete Güçyeter den ELIF Verlag mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Seinen Verlag finanziert Güçyeter bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. 2017 erschien Aus Glut geschnitzt, und 2021 Mein Prinz, ich bin das Ghetto. 2022 wurde Güçyeter mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. Er ist Vater von zwei Kindern und lebt in Nettetal.

Zum Buch:

Unser Deutschlandmärchen, das ist kein Roman, sondern an allererster Stelle ein Chor von Stimmen, die Geschichte(n) erzählen. Von großenteils weiblichen Stimmen, die in Monologen und im Dialog mit dem Autor das Schweigen brechen, zu dem sie verurteilt waren und sich selbst verurteilt hatten. Schreckliche Geschichten überwiegend, von Ayşe, die, als Muslimin aus Griechenland in die Türkei vertrieben, nur „die Nomadin“ genannt und von den Dorfbewohnern entsprechend behandelt wird, von Hanife, ihrer Tochter, die nach dem Tod ihres Mannes in die Stadt zieht, um nicht von der Gnade ihrer sie misshandelnden Verwandtschaft abhängig zu sein, und von deren Tochter Fatma, die mit einem Mann verheiratet wird, den sie nicht kennt und mit dem sie nach Deutschland gehen muss, um dort Geld für seine Brüder zu verdienen. Sie alle beginnen zu sprechen, weil Dinçer, Fatmas Sohn, geboren und aufgewachsen im niederrheinischen Nettetal, einem Industrie- und Bauernstädtchen an der holländischen Grenze, sie dazu auffordert oder vielleicht auch verführt. Und so kann Fatma schließlich von sich sagen: „Fatma ist mein Name, die Gastarbeiterin, die Akkordbrecherin. Alles, was bei mir keine Sprache fand, soll auf euren Zungen die Seiten aufschlagen.“

Im Dialog von Fatma und Dinçer, der schon vor seiner Geburt beginnt, versucht der Sohn, seine Mutter zu verstehen, diese Frau, die so unendlich stark ist, wenn es darum geht, ihren Kindern ein besseres Leben zu verschaffen. Die zunächst in der Kneipe ihres Mannes arbeitet, bis die Schulden zu groß werden, dann in die Fabrik geht und anschließend auf den Feldern der Bauern Spargel sticht und Erdbeeren erntet, bis ihr Körper versagt. Und die sich bei aller Stärke doch nie wehrt gegen die Zumutungen des Lebens und der Männer, die zu keiner eigenen Stimme findet und sich im Sommerurlaub in Anatolien, wo sie wie in Deutschland nur die Fremde ist, den dortigen Gebräuchen stillschweigend wieder unterwirft.

Und es ist auch die Geschichte von Dinçer selbst, von der Gastarbeiterwelt, in der er, sobald er deutsch gelernt hat, “wie eine Aldi-Tüte” überall zum Dolmetschen mitgeschleppt wird. Wir erfahren von seinen tapferen Versuchen, der Mutter zu helfen, indem er nach der Schule bei den Bauern Geld verdient, von seinen Bemühungen, ihr Freude zu machen, aber auch von den Ambivalenzen dieser tiefen Liebe, die seine eigenen Wünsche, seine Träume nicht berücksichtigt und ihm stattdessen die Fesseln einer überkommenen Männlichkeit anzulegen versucht.

Güçyeter lotet die Tiefenschichten der Entwurzelung und des Lebens in einer Gesellschaft aus, in der Gastarbeiter nur der Produktion dienen und keinerlei Anerkennung bekommen, weder für ihre Leistung noch für ihre Person. Er bedient sich dazu aller nur erdenklichen literarischen Formen und einer Sprache, die, ob nun poetisch, wütend, mythisch oder nüchtern, immer von herzzerreißender Schönheit ist und einen Sog erzeugt, dem sich kaum jemand wird entziehen können.

Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.