Zum Buch:
Zehn Jahre hat der ehemalige US-Korrespondent des Sunday Telegraph Magazine, der Brite Adam Higginbotham, auf seine Recherche zu den Geschehnissen rund um die Katastrophe von Tschernobyl verwendet. Zehn Jahre, in denen er endlose Interviews mit Beteiligten, mit Angehörigen von Opfern sowie mit Experten geführt und sich durch Unmengen von teils erst in jüngster Zeit der Öffentlichkeit zugänglich gemachtem Aktenmaterial gekämpft hat. Eine fast unmenschliche Aufgabe. Doch hat es sich am Ende gelohnt, dass er trotz der erdrückenden Fülle an Material und trotz der grausamen Geschehnisse nicht aufgebeben hat. Besonders für den Leser. Denn was Higginbotham hier auf rund 600 Seiten zusammenträgt, läse sich in der Tat wie ein enorm gut recherchierter Roman, ein Krimi in höchster Vollendung – wäre da nicht all das Leid, das es tatsächlich gegeben hat. Und wäre da nicht der „Sarkophag“ selbst, jene einbetonierte, nach wie vor tickende Zeitbombe, die uns gemahnen soll und muss, welcher Gefahr wir uns tagtäglich aussetzen.
Während man damals bei der Routineübung einen kompletten Stromausfall simulierte, sind ohne Zweifel Fehler gemacht worden. Gravierende Fehler. Doch begann das eigentliche Szenario, das schließlich zur Katastrophe führte, bereits in der Planung des zu seiner Zeit größten Atommeilers der Welt. Ineffizienz, Korruption und Verschwendungssucht sind aus der russischen Wirtschaft nicht wegzudenken, auch war Tschernobyl keineswegs der erste „Unfall“ in einem russischen Atomkraftwerk. Vieles wurde kleingeredet – oder gleich komplett vertuscht. Doch was den Betreibern ganz besonders anzulasten ist, ist ihr Verhalten nach der Explosion: Erst nach 32 Stunden wurde das nur wenige Kilometer vom Kraftwerk entfernt liegende Prypjat mit seinen über 50.000 Einwohnern evakuiert, und noch viel später wurde die Weltöffentlichkeit über die Geschehnisse in Kenntnis gesetzt. Doch war es da bereits zu spät: Eine im höchsten Grad giftige Wolke hatte längst ihren Weg entlang der Nordhalbkugel angetreten.
Adam Higginbotham schreibt in einer stets klaren, sich niemals zu sehr ins Detail verlierenden Sprache und erzählt dennoch auf eine überaus lehrreiche, informative und nie langatmige Weise. In Mitternacht in Tschernobyl, das bereits zum Standardwerk über das Thema avanciert ist, ist es ihm darüberhinaus gelungen, den Leser von der ersten Seite an in den Bann zu ziehen. Wie in einem enorm gut recherchierten Roman, einem Krimi in höchster Vollendung. Leider handelt es sich jedoch um unwiderlegbare Fakten.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln