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Das achte Kind

Autor
Grabovac, Alem

Das achte Kind

Untertitel
Roman
Beschreibung

Wenn die Wahrheit alles Begreifbare überschreitet, scheint es manchmal naheliegender, mit einer Lüge zu leben. Aber was tun, wenn die Lüge erste Brüche bekommt, dann gänzlich in sich zusammenfällt und man der ungeschminkten Wahrheit näher gekommen ist als jemals zuvor? Alem Grabovac erzählt mit leichter Hand von seinem Leben mit der Lüge und der Suche nach der eigenen Vergangenheit.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
hanserblau in Carl Hanser Verlag, 2021
Seiten
256
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-446-26796-1
Preis
22,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Alem Grabovac, 1974 in Würzburg geboren. Mutter Kroatin. Vater Bosnier. Er hat in München, London und Berlin Soziologie, Politologie und Psychologie studiert und lebt mit seiner Familie in Berlin. Als freier Autor schreibt er unter anderem für Die Zeit, Welt, taz.

Zum Buch:

„Meine Mutter wurde 1949 in Maovice, einem kleinen Gebirgsdorf im kroatischen Hinterland, geboren.“

So beginnt der Berliner Autor Alem Grabovac seinen autobiografischen Roman, und je weiter man in der Lektüre voranschreitet, desto mehr beschleicht einen das Gefühl einer vagen Vertrautheit, als würde man einen Bekannten über das Schicksal der Familie Grabovac erzählen hören.

Bald schon gerät jeder Absatz, jede Wendung, die man da liest, zum wichtigen Indiz, möglicherweise, weil man zu ahnen glaubt, worauf das alles hinausläuft, und auf keinen Fall die Abzweigung, den alles entscheidenden Moment verpassen möchte, da sich die Auflösung in ihrer ganzen Strenge und Unverrückbarkeit entblößt.
Mit sechzehn Jahren verlässt Smilja, Alems Mutter, das elterliche Dorf und arbeitet zunächst als Spülerin in einem Restaurant in Zagreb, bevor sie wenig später über einen Vermittler eine Anstellung in Deutschland finden kann. In Würzburg. In einer Schokoladenfabrik. Der Traum vom besseren Leben scheint in greifbare Nähe gerückt, und die junge Frau kann ihr kleines Glück kaum fassen.

Doch als Gastarbeiterin macht ihr die Fremde bald schon zu schaffen, und so weint sie sich Abend für Abend in den Schlaf.

1973, sie hat mittlerweile einen Deutschkurs besucht, wohnt zur Miete in einer winzigen, dunklen Wohnung in der Würzburger Altstadt, lernt sie den um einige Jahre älteren Emir Grabovac kennen, der ihr schöne Augen macht, sie zum Tanzen ausführt und sich für einen zweiten Marlon Brando hält.

Neun Monate später wird Alem geboren – und spätestens jetzt beginnen die Probleme. Emir ist ein Säufer. Ein Aufschneider und Taschendieb, der seine Frau betrügt und nicht mal im Traum daran denkt, auf den kleinen Alem aufzupassen, während Smilja sich in der Fabrik für die Familie abrackert.

Eine gute Freundin rät ihr, Alim in eine Pflegefamilie zu geben, und so kommt es, dass er die Woche über bei der Familie Behrens in Frankfurt lebt und nur die Wochenenden bei seinen Eltern verbringt. Die Behrens sind streng. Aber nett. Haben selbst sieben Kinder. Die Frau führt den Haushalt, der Mann arbeitet als Journalist, und sie nehmen das Gastarbeiterkind auf wie ihren eigenen Sohn: Das achte Kind.

Da ist Alim gerademal drei Jahre alt.

Unterdessen gerät Emir mehr und mehr auf die schiefe Bahn, während Smilja in ihrem Kummer versinkt. Eines Tages muss er überstürzt die Wohnung in Würzburg verlassen, da ihm aufgebrachte Männer auf den Fersen sind, denen er Geld schuldet. Es dauert nicht lange, und er sitzt in Goli Otok ein, der gefürchteten Gefängnisinsel in Jugoslawien. Seinen Sohn, der von all dem nichts weiß, wird er nie wieder sehen.

Viele Jahre später. Alim, der sich bei den Behrens längst mehr zu Hause fühlt als bei seiner Mutter und deren neuem Freund, der ihn zudem aus den nichtigsten Gründen schlägt, gerät in Streit mit Herrn Behrens, der immer noch seiner Naziideologie nachhängt. Er beginnt, zwischen den Einflüsterungen seines Pflegevaters und der Wirklichkeit zu differenzieren, lernt die Dinge eigenständig zu beurteilen und von einer anderen, unbelasteten Warte aus zu betrachten.

Dann, Alim ist erwachsen, hat bereits eine eigene Familie gegründet, gesteht ihm Smilja plötzlich, dass die Geschichte, sein Vater sei bei einem Baustellenunfall ums Leben gekommen, eine Lüge ist. Eine Lüge, mit der sie ihn nur schützen wollte.

Nach dem ersten Schock beginnt Alim sich zu fragen, wer dieser Emir Grabovac, sein leiblicher Vater, überhaupt war – und begibt sich auf die Suche.

Die Sprache, in der Das achte Kind erzählt wird, ist von eingängiger, unauffälliger Nüchternheit, und gerade dieser Umstand befreit das Geschilderte von allem Klischeehaften und verleiht ihm die nötige Glaubwürdigkeit und direkte Nähe. Man ist sogar versucht, dem Erzähltempo noch vorauszueilen, da sich die Neugier des Lesers mit jedem Kapitel noch steigert. Ein Roman mit der Unmissverständlichkeit einer klaffenden Wunde, in dem sich einmal mehr bewahrheitet, dass das Leben selbst die besten Geschichten zu erzählen weiß.

Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln